Foto: Fischerotrephes depressus aus Borneo, Paratypus. Diese interessante Art mit außergewöhnlicher Lebensweise, die von Dr. Herbert Zettel neu beschrieben wurde, gehört zu den Wasserwanzen. © Harald Bruckner, NHMW.

Das Artensterben und insbesondere der starke Rückgang der Insektenfauna lenken den Fokus auf das, was kreucht und fleucht, summt und brummt. Ein Mensch, der sein Leben der Entomologie, also der Insektenkunde widmet, ist Dr. Herbert Zettel. Wie kam es dazu? Was ihn an den kleinen Erdenbewohnern fasziniert, hat er mir im Interview erzählt.

Sonja: Sehr geehrter Herr Dr. Zettel, lieber Herbert, wenn man sich deinen Lebenslauf  durchliest, hat man das Gefühl, du wolltest schon immer Entomologe werden. War das tatsächlich so? Und wie hat dein Interesse, deine Leidenschaft für die Insektenwelt begonnen? Gab es ein Schlüsselerlebnis?

Dr. Herbert Zettel: Meine besondere Neigung zu den Insekten kam recht spät und war das Ergebnis einer langen Entwicklung. Doch schon als kleiner Bub faszinierten mich Tiere. Dies wurde von meinem Opa gefördert. Damals, in den späten 1960ern hatte noch jeder Zirkus zahlreiche exotische Tiere: Löwen und Tiger, Eisbären und Robben, Elefanten und Kamele. Opa brachte mich manchmal zur sogenannten Tierschau, wo man den Zirkustieren ganz nahe sein konnte. Heute wird dieser Umgang mit Tieren freilich negativ bewertet. Aber auch der Tiergarten hatte damals noch viel zu kleine Bärenzwinger und hunderte kleine Vogelkäfige. Jedenfalls wurde meine Begeisterung für die biologischen Vielfalt früh geweckt: Schon in der Volksschulzeit erstellte ich Unmengen kleiner Tierzeichnungen und verschenkte sie an Mitschüler.

Im Gymnasium (Wien 8, Albertgasse) standen mir die mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächer am nächsten. Nach der Matura wollte ich – stark beeinflusst durch die wöchentlichen Fernsehsendungen von Professor Otto König („Rendezvous mit Tier und Mensch“) – an der Universität Wien Verhaltensforschung studieren. Nach einer einzigen langweiligen Psychologie-Vorlesung und wegen einer (kurzzeitigen) Änderung der Studienordnung entschied ich mich aber für ein reguläres Biologiestudium mit Hauptfach Zoologie. Dass das Studium viel mehr bot, als verschiedene Tiere vorgestellt zu bekommen, überraschte mich anfangs. Die Bandbreite war enorm; es gab damals noch viele Lektoren, die exklusive Spezialthemen aus ihren unmittelbaren Fach- und Interessensbereichen vortrugen. Physiologie erschien mir bald zu labor-orientiert und für Ethologie fühlte ich mich schnell ungeeignet (ich habe zu wenig Geduld). Also blieben mir die morphologischen Fächer. Ich schwankte lange zwischen Mollusken und Arthropoden und entschied mich für letztere, wohl weil ich die klaren Strukturen eines Außenskeletts schätzte und weil ich schon eine kleine Käfersammlung angelegt hatte. Diese Wahl brachte mich schließlich schon als Student ans Naturhistorische Museum, wo Univ.-Doz. Hofrat Dr. Maximilian Fischer (1929–2019) meine Dissertation über die Taxonomie von Brackwespen (1987–1991) betreute.

Foto: Univ.-Doz. Hofrat Dr. Maximilian Fischer . © Fritz Gusenleitner.

Sonja: Seit 1992 bist du im Naturhistorischen Museum Wien beruflich tätig. Mittlerweile bist du Abteilungsleiter der II. Zoologischen Abteilung, der Abteilung für Insekten. Du hast auch schon viele Jahre als Forscher hinter dir. Was waren für dich die spannendsten Momente oder Entdeckungen während deiner Laufbahn?

Dr. Herbert Zettel: Viele Menschen glauben, ein Forscherleben ist voll spannendster Entdeckungen. Selbst bei tiefstem Interesse: die Heureka-Momente sind selten. Schon im Rahmen meiner Dissertation hatte ich 108 Brackwespenarten und fünf Gattungen neu beschrieben – alles ausschließlich anhand von genadelten Insekten aus vielen Museen. Das bedeutete viele Stunden Messungen von Körperteilen, Merkmalsbeschreibungen und Zeichnungen, also knochentrockene Arbeit.

Foto: Dentigaster barbarella aus Brasilien, Paratypus. Eine  Brackwepsengattung und -art, die von Dr. Herbert Zettel erstmals beschrieben wurde. Viele Brackwespen gehören im biologisch bewirtschafteten Garten zu den Nützlingen. Diese parasitoiden Arten ernähren sich im Larvenstadium oft von Raupen.  © Tamara Spasojevic.

Meine Anstellung im Jahr 1992 brachte zwei grundlegende Änderungen: Erstens wandte ich mich als Kurator für Hemiptera den Wanzen zu, genauer gesagt den Wasserwanzen. Zweitens war ich nun von den größten finanziellen Zwängen befreit, und es gab plötzlich die Möglichkeit, die Vielfalt der Tropen zu erkunden, mit privaten Mitteln oder sogar in Expeditionen des Museums.

Meine Ziele lagen in Südostasien. Auch über entomologische Expeditionen haben die Menschen oft falsche Vorstellungen: gefährliche Tiere wie Schlangen und Skorpione, Tropenkrankheiten und Überfälle. Das gefährlichste sind aber Unfälle. Unzählig waren die Busse und PKWs, die ich in Straßengräben oder unter Abhängen gesehen habe. Die kritischsten Situationen entstanden beim Sammeln allein auf rutschigem Terrain.

Außerdem: Die meisten neuen Arten entdeckt man nicht während einer Expedition, sondern danach, am Arbeitsplatz nach genauer Betrachtung der „Ausbeute“ unter dem Mikroskop, oft sogar erst nach Sezieren der Genitalstrukturen. Doch ein paar tolle Entdeckungen vor Ort gab es schon, z. B. jene einer neuen Unterfamilie der Halbkugel-Rückenschwimmer in den Bergbächen Borneos oder die neue Gattung von Bachläufern im Eingangsbereich eine Höhle in Thailand.

Foto: Raubfliegen können auch im eigenen Garten beobachtet werden. Sie machen Jagd auf andere Insekten. Diese hat soeben eine Honigbiene erbeutet. Auch diese Familie hat das Interesse bei Dr. Zettel geweckt. © Sonja Schwingesbauer.

Sonja: Du hast dich tatsächlich schon mit sehr vielen Insektengruppen, heimischen und exotischen Arten befasst. Gibt es eine Tiergruppe, in die du dich als Forscher noch neu oder stärker vertiefen wollen würdest?

Dr. Herbert Zettel: Ich habe während meiner Karriere hauptsächlich über drei Insektenordnungen publiziert: Wanzen, Hautflügler und Käfer. Die Methoden der Taxonomie (der Benennung und Beschreibung von Arten) sind ja ähnlich anzuwenden. Man muss sich nur die Zeit und Mühe nehmen, alle bereits bekannten Arten ausreichend zu studieren. Da Zeit im Leben eines Naturforschers immer Mangelware ist, sind immer wieder Vorhaben „unvollendet“ geblieben. Wahrscheinlich gehen meine unerledigten Aufgaben, die „aufzuräumen“ wären, in den dreistelligen Bereich. In meinem Alter empfiehlt es sich daher, hier die Schwerpunkte zu setzen und nicht mehr viel Neues zu beginnen.

Andererseits: Ich habe das Studium der Entomologie in einer Zeit begonnen, als illustrierte Bücher Mangelware waren. Strichzeichnungen waren meist das Maximum und aus Kostengründen nur sehr spärlich vorhanden. In den 1980er-Jahren schrieb ich meine Manuskripte mit einer alten, mechanischen Schreibmaschine und ergänzte sie durch Tuschezeichnungen. Die Erfindung der Digitalfotografie war ein Meilenstein für die Entomologie. Das Internet sorgte für eine schnellere Verbreitung des Wissens. Ich weiß schön illustrierte Insektenbücher, insbesondere wenn sie taxonomische Revisionen enthalten, wirklich sehr zu schätzen. Daher stammt vermutlich auch mein Interesse für Schriftleitung. Es macht mir auch Spaß, mir noch unbekannte Insektengruppen „auszuprobieren“. Zum Beispiel hätte ich nie gedacht, mich je mit Fliegen zu beschäftigen. Aber unser neuer Kollege am Naturhistorischen Museum, Dr. Alexssando Camargo, ist Spezialist für Raubfliegen und hat mir diese spannende Gruppe auf Exkursionen nahegebracht – einer meiner vielen Ausrutscher.

Foto: Die Berge der Insel Cebu sind mittlerwei.e größtenteils entwaldet. Diese Entwicklungen wirken sich auf die Biodiversität in jeder Hinischt negativ aus. © Herbert Zettel.

Sonja: Immer wieder ist das Artensterben, der Verlust unserer Biodiversität ein großes mediales Thema. Wie stehst du dazu? Ist es um unsere Tierwelt und auch die Insektenwelt tatsächlich so schlimm bestellt? Und wenn ja, was müsste man aus deiner Sicht tun, um das zu ändern?

Dr. Herbert Zettel: Ich glaube, um die Artenvielfalt ist es noch viel schlimmer bestellt, als in den Medien berichtet wird, aber die Berichte gehen weitgehend an den größten Problemen vorbei. Die Erhaltung von Luchs, Wolf und Bär, Ameisenbläuling, Sägeschrecke und Juchtenkäfer, die Rettung der Moore und Trockenrasen ist zweifellos äußerst wichtig. Die Integration des Naturschutzes in ihren Regelwerken halte ich übrigens für den einzigen positiven Aspekt der Europäischen Union, zumindest in Österreich.

Die nationale Roten Listen sind besorgniserregend. In der kürzlich neu erschienenen Roten Liste der Ameisen Österreichs haben Spezialisten knapp die Hälfte aller Arten als gefährdet, stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht eingestuft. Die Zahlen sind alarmierend – hoffentlich auch für die Naturschutzbehörden. Dabei geht es aber immer „nur“ um die Verhinderung nationaler Artenverluste.

Global gesehen lebt die größte Biodiversität in den Tropen. Dort verschwinden die Arten tatsächlich, und zwar für immer und meist unbemerkt. Dort wird nach wie vor, oft ungehindert, Raubbau an der Natur betrieben. Auf den Philippinen ist der natürliche Urwaldbestand auf wenige Prozente (< 3%) geschrumpft. Kleinere Inseln haben Waldökosysteme komplett verloren und mit ihnen alle endemischen Bewohner. Ich bin mir sicher, dass ich vor einem Vierteljahrhundert auf den Philippinen in Fließgewässern Arten gefunden habe, die heute nicht mehr existieren.

Was hat sich in den „Entwicklungsländern“ im Laufe meiner Lebensspanne verändert? Die früheren Hauptprobleme Hunger und Krankheiten wurden deutlich reduziert, in einigen Ländern ist das Hungerproblem fast gelöst. Die postkoloniale Entwicklung hat aber nur in wenigen Staaten zu einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit geführt. Die Wirtschaftstreibenden des Westens (und relativ neu auch Chinas) schaffen immer neue Abhängigkeiten, eine Eigenversorgung z. B. mit Nahrungsmitteln wird immer unmöglicher, besonders für eine noch immer stark wachsende Bevölkerung. Eine Entwicklung zu Wohlstand und Unabhängigkeit der Menschen wird auch gar nicht mehr angestrebt (und wie ist das bei uns?). Wie kann in diesen Ländern Naturschutz Priorität haben? Politik nach dem Slogan „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“, führt in den „westlichen“ Staaten zu beispielloser Überproduktion und Konsum. Letzterer ist oft erzwungen: Eine Waschmaschine „lebte“ vor fünfzig Jahren gut zehnmal so lange wie heute. Warum? Billigkleidung wird oft nur einmal oder gar nicht getragen, ehe sie wieder entsorgt wird. Warum? Die Plastiksohle meiner erst drei Jahre alten warmen Patschen, die ich nur in der kühlen Jahreszeit trage, ist letzte Woche unter meinen Füßen zerbröselt (im Meer würden die Brösel wahrscheinlich tausende Jahre überdauern). Warum?

Die US-amerikanische und europäische „woke“ Gesellschaft verstrickt sich immer mehr in heuchlerischen Alibihandlungen und Worthülsen, die einzig dazu geeignet sind, das eigene Gewissen zu beruhigen. Gleichzeitig entzieht man den Entwicklungsländern die wichtigsten Ressourcen, gräbt ihr Land auf der Suche nach Seltenen Erden um und lädt dort den ganzen Müll ab. Aber man vermeidet „kulturelle Aneignung“ und disst weiße Reggae-Musiker mit Dreadlocks. Welch Heuchelei!

Foto: Mount Talinis, Insel Negros, Philippinen, 2006. Diese Wälder beherbergen eine ungalubliche Artenvielfalt, einige Insekten sind nur von diesem Berg bekannt. Ein Paradies für Forschende. © Herbert Zettel.

Sonja: Du bist unter anderen auch Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Österreichischer Entomologen. Dort warst du auch einige Jahre ehrenamtlicher Präsident. Der Verein ist nicht nur auf Entomologen, die wissenschaftlich tätig sind, beschränkt, sondern ein großer Teil der Mitglieder besteht aus Entomologinnen und Entomologen, die ihre Tätigkeit nebenberuflich ausüben. Warum ist es wichtig, dass es Vereine wie die AÖE gibt, wo Wissenschaftler und Amateuere zusammenkommen?

Dr. Herbert Zettel: „Entomologe“ ist die Bezeichnung für einen Wissenschaftler der Insektenkunde, also für eine Person, die wissenschaftliche Ergebnisse in diesem Fachgebiet liefert. Dies ist ein weit gespanntes Feld. Früher waren die meisten Mitglieder der AÖE Sammler, meist von Schmetterlingen und Käfern. Eine klare Unterscheidung zwischen Wissenschaftlern und Amateuren ist eigentlich nicht möglich, es sei denn, man zieht ein abgeschlossenes Hochschulstudium als Hilfskriterium heran. Wissenschaftlich aufgebaute Sammlungen, auch in privater Hand, waren immer schon Säulen der taxonomischen Forschung. Selbst wenn ein Sammler nicht selbst Forschungsergebnisse publiziert, so landen die Früchte seiner Arbeit, also seine Präparate, fast immer irgendwann in einer öffentlichen Sammlung wie z. B. dem Naturhistorischen Museum. Gerade für Rote Listen, die heute nach objektiveren Kriterien als früher erstellt werden, ist jeder einzelne Beleg, und sei er 100 Jahre alt, wichtig. Es gab und gibt in der AÖE zahlreiche „Amateure“, die neue Arten in ihrer Freizeit beschreiben. Die Zeitschrift der AÖE ist voll mit Beispielen.

Bereits seit einigen Jahren hat sich der Tierschutzgedanke auch auf Insektenindividuen ausgedehnt – meiner Meinung nach ein fehlgeleitetes Verhalten (man kann von keinem Insekt belegen, es sei ein „mitfühlendes Wesen“). Im Artenschutz hat das Einsammeln von Insektenbelegen nur ganz ausnahmsweise Relevanz, und wenn, dann geht es meistens um die Zerstörung von Kleinstlebensräumen.

In der „Ecke“ des Tierschutzes stehen mittlerweile zahlreiche Personen, die ihre entomologische „Forschung“ auf Fotografie reduzieren und die Fotos dann auf Foren im Internet (z. B. iNaturalist) stellen. Ich finde es prinzipiell gut, dass immer mehr Menschen sich für Natur interessieren und über den Umweg der Identifizierung durch andere etwas über ihre Mitwelt lernen wollen. Die Benennung von Fotos durch demokratisches Abstimmen statt Bestimmen ist aber in vielen Fällen – gerade in der Entomologie – zu hinterfragen; zu viele unbeantwortete taxonomische Fragen gibt es dafür selbst in Mitteleuropa noch. Wie schnell könnte die Entomologie Fortschritte erzielen, wenn die Energie der naturinteressierten Amateure auf solide Forschung umgeleitet werden könnte!

Sonja: Vielen Dank für das interessante Interview!

Dr. Herbert Zettel

Position: Abteilungsleiter, Kurator Hemiptera

Aufgabenbereich:

Leitung der II. Zoologischen Abteilung

Kurator der Hemiptera-Sammlung

Systematisch-taxonomische Forschung

Herbert Zettels ORCID Eintrag:

https://orcid.org/0000-0002-7760-0472

Kontakt: herbert.zettel@nhm-wien.ac.at

© Alice Schumacher, Naturhistorisches Museum Wien.